Ein Loch für alle

Das größte Loch der Welt – nichts Geringeres will die Initiative Loch 21 in Stuttgart graben. Die Idee zu dieser Antwort auf das umstrittene Milliardenprojekt Stuttgart 21 entstand im Frühling 2010, als ein CDU-Abgeordneter forderte, man möge doch ein Loch am Bahnhof graben, damit alle sehen, dass Stuttgart 21 unumkehrbar sei. Loch 21 fordert zum Partizipieren auf: „Grab mit!“. Eine Gruppe auf Facebook wurde zum Sammelbecken für all jene, die dieser Aufforderung Folge leisteten: In einer gespielten Befragung konfrontierte zum Beispiel der Musiker und Fluegel TV-Moderator Putte fiktive Stuttgarter Bürger mit dem geplantem Loch. Er stellte auch einen Loch 21-Blues ins Netz. Das Fotografenduo Frank und Steff organisierte ein Casting zu „Stuttgarts next Lochmodel“. Sie fotografierten die grabenden Gewinner in Loch 21-Kleidung, die der Grafiker Martin Zentner für die Fans des Projekts entworfen hatte. Der Künstler Kurt Grunow durchlöcherte Asphalt und plante, wie man auf diese Weise größere Löcher in der Stadt ausheben könnte. Andere schickten Fotos oder Geschichten rund um Löcher aus aller Welt. Loch 21 wächst mit jedem, der sich an ihm beteiligt.

Um die Sache voranzutreiben, hat sich die Künstlergruppe Schattenwald des Themas angenommen. Neben der Lochgründerin Dora Asemwald und Martin Zentner gehört auch die Künstlerin und Kunsttherapeutin Karin Rehm zur Gruppe. Mit Loch 21 geht es ihnen darum, das Phänomen auch außerhalb des virtuellen Raums mit anderen zu teilen. Die Ausstellung „Grab mit! Dora und der Widerstand“ war ein erster Schritt dazu. Ihr Ort wurde mit Bedacht gewählt: „Unser Pavillon“ ist ein temporärer Bau im Mittleren Schlossgarten Stuttgarts. An dieser Stelle soll irgendwann die Baugrube für den neuen Tiefbahnhof entstehen. Als Informations- und Ausstellungsplattform der K21-Bewegung ist der von der Künstlergruppe Begleitbüro SOUP initiierte Pavillon nicht nur Anlaufstelle für Aktivisten und Künstler, sondern auch für interessierte Passanten. Damit schien er genau der richtige Ort zu sein, ein partizipatorisches Kunstprojekt zum Thema Stadtentwicklung durchzuführen.

Zentral für das Großprojekt Loch 21 ist der Lochplanungsprozess an sich. Dazu wollten die Künstler wissen, wo mit dem Graben angefangen werden soll. Eine auf Leichtschaumplatte aufgezogene Luftaufnahme des Stuttgarter Kessels wurde ausgehängt. Anbei die Aufforderung eine der durchnummerierten roten Markierfähnchen an jene Orte zu stecken, die nach Ansicht der Befragten durch das Graben eines Loches eine positive Entwicklung erfahren dürften. Anfangs traute sich noch keiner eine erste Fahne zu platzieren. Die Besucher fingen an auszuhandeln, wo und wie man wohl anfangen könnte. Eine Diskussion über die Stadt entbrannte und die ersten Fahnen wurden gesteckt: Das Rathaus und die Villa Reitzenstein waren erwartungsgemäß unter den ersten Zielen, die von „Wut-Lochplanern“ gewählt wurden. Neuer Sinn sollte einem Sportplatz verliehen werden, indem er ein großes Loch in seiner Mitte bekäme. Ein weiteres Loch könnte im Flussbett des Neckars gegraben werden, es würde dann von alleine vollaufen. Subversiv durchzuführende Löcher in Kellern von Mietshäusern und andere auf eigenem Grund und Boden wurden geplant. Ein Loch an Stelle der LBBW böte Platz für eine „Bad Bank“ und wäre ein Markt für Leerverkäufe. Eine tatsächliche Baugrube im Gerberviertel sollte einfach nicht wieder zugebaut werden, wünschte sich eine der Planerinnen, die keine Lust auf Shoppingmalls und leerstehende Neubauten hatte. „Löcher muss man aushalten können“, so kommentierte sie ins beiliegende Lochbuch.

Um Löcher richtig zu verstehen, muss man sie begreifen. Ein Lochworkshop am Modellgrabfeld sollte die Teilnehmer in Berührung mit der Materie bringen. Sie wurden dazu aufgefordert, in einer Holzkiste mit glattgestrichenem Ton ein Loch zu graben. Dabei sollten ihre insgeheimen Wünsche, Bedürfnisse und Impulse in die Lochplanung mit einfließen können. Die Besucher begegneten dem Aufruf, die glatte Oberfläche der weichen Tonerde zu verletzen mit gemischten Gefühlen. Während einige lustvoll in die Erde griffen, näherten sich andere – wenn überhaupt – nur zögerlich. Manche wollten lieber bauen als graben. Doch sie mussten feststellen, dass man nur schöpfen kann, wenn man an einer anderer Stelle etwas wegnimmt. Während bei der Planung die Stimmung noch unsicher und zum Teil ausgelassen war, wurden die Gespräche beim Modellgraben konzentrierter und gingen tiefer. Wer konkret zu handeln beginnt, wird sich des Aspekts der Arbeit dabei am eigenen Leib bewusst. Als Geste der Anerkennung für die erbrachte Leistung erhielt jeder eine kleine Trophäe, die ihn als partizipierenden Lochplaner ausweist. Der Ton wurde nach jedem Grabungsakt wieder glatt gestrichen, sodass der Nächste sein Loch verwirklichen konnte.

Seit dem Lochworkshop ziert eine in Stirnhöhe mehrfach abgehängte Affirmation den Ausstellungsraum. Sie zitiert die Fußballtrainerlegende Sepp Herberger: „Wer viel Spaß haben will im Spiel, muss die Sache ernst nehmen“.

Karin Rehm, Martin Zentner

www.loch21.de
www.galerie-dora-asemwald.de
www.unser-pavillon.de

Dieser Artikel erschien in der Publikation „Oberwelt Aktuell“, 33. Jahrgang, Ausgabe 4 vom 20. Dezember 2011

 

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