Die Pavillonistische Bewegung

Vor einem Jahr wurde im Rahmen des Widerstands gegen das Bauprojekt Stuttgart 21 die Initiative „Unser Pavillon“ gegründet. In mitten des umstrittenen Schlossgartens, jenem Ort, an dem die Baugrube für den geplanten Tiefbahnhof ausgehoben werden soll, wurde ein temporärer, containerartiger Holzbau aufgestellt. Als Informations- und Ausstellungsplattform der K21-Bewegung war der von der Künstlergruppe Begleitbüro SOUP initiierte Pavillon nicht nur Anlaufstelle für Aktivisten und Künstler, sondern auch für interessierte Passanten. Mit der Räumung des Schlossgartens Anfang des Jahres musste auch das Gebäude weichen. Die Idee des Pavillons lebt weiter.

Zum Jahrestag hatten wir ein sehr besonderes Treffen an unserem Pavillon. Viele Menschen versammelten sich, trugen spontan etwas vor, sangen, tauschten sich aus. Bemerkenswert: Da, wo einst der Pavillon in seiner physischen Manifestation stand, waren nur noch Klebebandstreifen, die an seinen Grundriss erinnerten. Beraubt ihrer Inkarnation bleibt die nackte Idee, ohne die Bürde einer Bude, die gepflegt und gehegt sein will, die nur bedingt mobil auf die Bedürfnisse ihrer Pavillonisten reagieren kann. Was ist „Unser Pavillon“? Ist es ein Haufen zusammengeschraubter Bretter, die im Ausstellungsraum des Württembergischen Kunstvereins ihr Exil fristen? Sind es die weißen Maleranzüge, in denen einige Pavillonisten auf die Montagsdemo gehen? Ist es die Facebookseite, die befüllt und moderiert wird, ist es das offene Mikrofon, in das beharrlich geschwiegen wird? Oder sind es die Linien im Schlossgarten, die das gedankliche Loch umranden, das einst der Pavillon füllte? Die Antwort ist einfach: Unser Pavillon, das sind die Pavillonisten! Menschen, die die Idee des Pavillons nicht nur in ihren Köpfen und Herzen tragen, sondern sie auch leben. Sei es auf Facebook oder im Maleranzug. Es sind Menschen, die sich für eine neue Bürgergesellschaft interessieren und engagieren. Menschen in all ihrer Vielfalt, deren gemeinsamer Nenner eine Haltung ist.

Ursprünglich war es die K21-Bewegung für die der Pavillon stand. Doch schnell haben wir bemerkt, dass Stuttgart 21 nur ein Symptom einer grundlegenden Schieflage unseres Systems ist. Das Großbauprojekt und die Methoden seiner Zustandebringung sind ein Atavismus aus der Zeit des Wirtschaftswunders, als es galt, eine zerbombte Stadt wieder aufzubauen. Heute muss man zuerst zerstören, wenn man bauen will. Jene, die durch das alte System an die Macht gekommen sind, nutzen eben diese Macht, um ihr System zu verteidigen – Systemkritiker sind da unerwünscht. Und genau das sind wir Pavillonisten. Wir beleuchten systemimmanente Schwachstellen und hinterfragen, sind Sand im längst obsoleten Getriebe unserer Stadt und überlegen uns Alternativen, wie unsere Bürgergesellschaft zeitgemäß funktionieren kann. Welche Lösung die richtige ist, weiß keiner. Es gibt mindestens so viele Ansätze wie es Köpfe gibt, diese zu erdenken. Darum sind wir Pavillonisten eine so bunte Truppe. „We are the multitude“. Wir werden nie Konsens darüber finden, welche Ziele wir mit welcher Methode erreichen werden, doch eins eint uns: der Wille, es besser zu machen. Ob Open Planning, Liquid Democracy oder Bedingungsloses Grundeinkommen, die Diskussion über die Wege zu einer uns gerechten Gesellschaft bringt uns voran.

Doch brauchen wir Konsens? Wollen wir uns über Mittel und Wege unseres Wirkens verstreiten, Frakionen bilden und Wortführer ernennen? Brauchen wir Oberpavillonisten, Hilfspavillonisten, Entscheidungsträger, Sprecher, Kassenwart und Fußvolk, das die Arbeit macht? Wollen wir uns so organisieren, wie jene, die wir kritisieren? Es ist an der Zeit, neu zu denken! Leben wir doch mit den Widersprüchen und definieren uns lieber über unseren Willen, etwas zu bewegen. Wir brauchen keine Hierarchien, wir sind ein Netzwerk. So wie Anonymous, jene Hacker, die für die Freiheit im Netz kämpfen. Da sie keinen Kopf haben, kann man diesen nicht abschneiden, oder bei einer Schlichtung über den Tisch ziehen. Die Machthabenden sind Strukturen gewohnt, die ihren gleichen – da können sie den längeren Hebel ansetzen. Einen physischen Pavillon können sie aus dem Stadtbild verbannen, einen Chefpavillonisten können sie einlullen. Ein Netzwerk aus engagierten Bürgern, die heute im weißen Anzug und morgen mit einer Rolle Klebeband  einfach aufkreuzen und Pavillon machen sind nicht greifbar aber omnipräsent.

Lasst uns den Gedanken des Pavillons von überkommenen Strukturen befreien! Wir brauchen keine Bude, wir brauchen keine Hierarchien. Wir brauchen Menschen, die bereit sind zu sagen und zu zeigen: Ich bin Pavillonist! Ich bin für ein besseres System, das nicht nur einer kleinen Elite dient. Lasst uns den physischen Pavillon auf das reduzieren, was ihn am stärksten macht: ein Symbol. Ein Symbol für unsere Haltung, unseren Mut und Willen zur Veränderung. Ein Symbol, dass durch die Geschichte des Pavillons im Schlossgarten aufgeladen wurde und so in unserem Bewusstsein verwurzelt wurde. Jetzt ist es an der Zeit, die Energie und Idee des Pavillons in etwas Neues zu transformieren, was über die Grenzen eines einzelnen Raumes hinausgeht. Wir transferieren den Raum zu einer Bewegung.

Doch wie schaffen wir es, die Idee des Pavillons ohne zentralistische Organisation und physischen Ort am Leben zu halten und zu verbreiten?

Die Pavillonistische Bewegung

Pavillonisten

Ein Pavillonist oder Pavillonistin ist jeder oder jede, der oder die anderen einen Raum bietet, Pavillonistische Ideen auszutauschen und zu verbreiten.

Pavillonistische Ideen

Pavillonistische Ideen sind Einfälle, Überlegungen, Entwürfe und Konzepte, die einem besseren Zusammenleben in unserer Gesellschaft dienen und andere befähigen, selbst Pavillonisten zu sein. Dadurch kann die pavillonistische Idee viral verbreitet werden.
Diese Ideen sind nicht an sprachliche oder rationale Formulierungen gebunden. Sie dürfen bildhaft, visionär und experimentell sein. Sie bedienen sich aller Möglichkeiten kultureller und künstlerischer Ausdruckformen wie zum Beispiel Gedichte, Plakate, Texte, Ausstellungen, Performances, Gespräche, Vorträge oder Lieder. Pavillonisten bemühen sich eigenverantwortlich um ein hohes Maß an ästhetischer Qualität und inhaltlicher Stimmigkeit bei der Formulierung ihrer Ideen.

(Zur viralen Verbreitung von Gedanken: http://de.wikipedia.org/wiki/Mem).

Pavillonistische Grundsätze

  • Gleichheit, keine Diskriminierung. Jeder kann Pavillonist sein, muss sich nicht erst anmelden oder die Erlaubnis holen.
  • Offenheit gegenüber allen Menschen und Ideen.
  • Kritische Haltung gegenüber dem bestehenden System, Bereitschaft, neue Wege zu denken und zu gehen. Offenheit gegenüber allen Ansätzen, die nicht gegen die Pavillonistischen Grundsätze verstoßen.
  • Der Pavillonismus ist nicht kommerziell.
  • Der Pavillonismus ist außerparlamentarisch und darf nicht von der Politik instrumentalisiert werden.
  • Vielfalt: Untschiedliche Meinungen innerhalb der Bewegung sind Grundlage für Diskussionen, die auf respektvolle Weise geführt werden.

Pavillonistische Räume

Der Pavillonistische Raum ist ein physischer und/oder virtueller Ort, der offen für alle Menschen ist und das Austauschen und Verbreiten Pavillonistischer Ideen ermöglicht.

Pavillonistisches Handeln

Pavillonistisches Handeln ist das Erzeugen und Betreiben Pavillonistischer Räume und das Verbreiten der Pavillonistischen Idee. Jeder Pavillonist ist für sein eigenes Handeln verantwortlich.

Pavillonistische Zellen

Eine Pavillonistische Zelle ist eine Gruppierung von Pavillonisten, die gemeinsam Pavillonistische Räume erzeugen und betreiben. Alle Pavillonistischen Zellen sind gleichwürdig.

Die Pavillonistische Bewegung

Die Pavillonistische Bewegung ist ein Netzwerk/Schwarm unabhängiger Zellen, die das gleiche Ziel verfolgen, aber in keiner festen Organisationsform stehen. Sie ist dadurch nicht anzugreifen und egalitär.

Es gibt keine offiziellen Sprecher der Bewegung. Niemand darf für die gesamte Bewegung alleine sprechen, nur für seine eigene Zelle. Wenn jemand über das Aufstellen eines physischen Pavillons mit der Stadt oder dem Land verhandelt, dann tut er das nur im Namen der Zelle, die den Pavillon dann dort aufstellt und betreibt und die Verantwortung dafür übernimmt. Keine Pavillonistische Handlung bedarf der Absprache mit anderen Pavillonisten oder einer Genehmigung. Es gibt keine Instanz, die über Pavillonistische Handlungen entscheidet.

Auf den ersten Blick raubt das dem Pavillon an Schlagkraft, doch wenn man die Sache zu Ende denkt, verleiht es ihm eine viel größere Kraft und verhindert, dass Einzelne versuchen, Macht über die Bewegung auszuüben.

Um Pavillonistische Aktivitäten zu koordinieren soll es weiterhin regelmäßige Treffen geben, bei denen sich Zellen austauschen und es möglich ist, sich für größere Projekte zusammenzuschließen.

Das Pavillonistische Zeichen

Um die Pavillonistische Bewegung sichtbar zu machen, setzen wir ein Zeichen, das Pavillonistisches Handeln sichtbar macht und Spuren unseres Schaffens hinterlässt. Es dient als Erkennungsmerkmal der Bewegung und bildet einen Rahmen um alles Pavillonistische Handeln, ist der „rote Faden“ durch die Vielfalt unterschiedlicher Beiträge. Das Pavillonistische Zeichen kennzeichnet Pavillonistische Räume und Kommunikation. Es symbolisiert die Pavillonistische Bewegung. Seine Anwendung im öffentlichen Raum hilft der Verbreitung und Sichtbarkeit des Pavillonismus. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass kein Vandalismus betrieben wird, da dieser die Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber der Bewegung senkt. Nichtpermanente Zeichen aus Kreide oder ablösbarem Klebeband sind zwar vergänglich, zeigen jedoch die Dynamik unserer Bewegung. Keine Idee darf in Stein gemeiselt werden, sie müssen offen für Veränderungen sein.

Das Pavillon-Zeichen leitet sich auch dem Grundriss des Ur-Pavillons aus dem Schlossgarten ab. Ein Rechteck mit je einer Öffnung an den schmalen Seiten und je vier Lamellen an den langen Seiten.

Die Proportionen des Originalpavillons werden abstrahiert. Das Logo wird wie ein Schriftzeichen verwendet, welches in einer Vielfalt an Schrifttypen dargestellt werden kann. Die Grundform ist eindeutig, die Ausgestaltung ist variabel. Dies steht für die Vielfalt der Bewegung, die sich jedoch auf gemeinsame Grundwerte beruft.

Neben der architektonischen Symbolsprache gibt es noch weitere Interpretationen:

Chips (Prozessoren):

Das Zeichen erinnert an Chips wie zum Beispiel Prozessoren. Chips nehmen Daten auf, verarbeiten sie und geben sie weiter. Sie steuern, berechnen, kommunizieren und sind der Motor der heutigen Kommunikationsnetzwerke.

Spinnen

Spinnen haben acht Beine, sie sind überall zu finden und spinnen Netze. Pavillonzeichen könnten sich wie ein Schwarm über die gesamte Stadt ausbreiten. Die Pavillonistische Bewegung ist kein Organismus mit spezialisierten Zellen, die nur eine Aufgabe zu erfüllen haben, sondern ein Schwarm gleichwürdiger Zellen, die ihre Funktion den Bedürfnissen anpassen, sich je nach Bedarf zusammenschließen oder wieder trennen.

Wimperntierchen

Die einzelligen Wimperntierchen stehen für die Urzelle, aus der der Pavillonismus entspringt. Sie vermehren sich durch Zellteilung. Genau so sollen sich die Pavillonistischen Zellen vermehren! Mit jeder Zellteilung entstehen neue Impulse, die Bewegung breitet sich aus. Jede Replikation durch Zellteilung bringt Mutation und muss sich der Selektion stellen. Es entsteht ein evolutionärer Prozess.

Mögliche Pavillonistische Räume:

  • Eine Gruppe auf Facebook, in der diskutiert werden kann. Jeder handelt dort unter seinem Namen, niemand tritt als Pavillon auf. Deshalb ist die derzeitige Pavilllonsseite ungeeignet, da sie Administratoren erlaubt, als Pavillon zu sprechen.
    https://www.facebook.com/groups/215697268537359/
    Jedem, der Facebook für ungeeignet hält, steht es offen, eine andere Plattform als Pavillonistischen Raum zu schaffen.
  • Der physische Pavillon oder einzelne Teile dessen können von einer Pavillonistischen Zelle aufgestellt und betrieben werden.
  • Mit Overalls oder Shirts gekennzeichnete Pavillonisten können im Umfeld von Demos und anderen Veranstaltungen Gesprächsrunden initiieren und die Pavillonistische Idee verbreiten.
  • Veranstaltungen, wie Seminare und Workshops.
  • Regelmäßige Formate wie das offene Mikrophon können abgehalten werden.

Idee und Text

Karin Rehm, Martin Zentner

Karin Rehm und Martin Zentner agieren als die Künstlergruppe Schattenwald. Als diese beschäftigen sie sich spielerisch und ernst mit der Grenze zwischen materiellem und virtuellem Raum im Bezug auf unsere Gesellschaft. Schattenwald versteht sich selbst als pavillonistische Zelle.

www.schattenwald.eu