Endstation Loch

20130928_Bahnsteigwanderung_0114

Das Loch, zum Zeitpunkt der „Magistralenwanderung“ am 28. September 2013.
Foto: Martin Zentner

Wie ist es gekommen, dass in Stuttgart das größte Loch der Welt gegraben wurde? Dieser Frage aus dem Jahr 2053 gingen Karin Rehm und Martin Zentner im Rahmen des Projekts Loch 21 letztes Wochenende am 28. 9. 2013 nach. Dazu versetzten sie die Besucher einer künstlerischen Wanderung im Umfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs in die Zukunft und hielten einen Vortrag über die Geschichte des Lochs, welches aus der Bauruine eines gescheiterten Großprojektes entsprang. Die sogenannte „Magistralenwanderung“ wurde von der Künstlergruppe „Begleitbüro SOUP“ veranstaltet, bei denen Karin Rehm auch Mitglied ist.

2013_09_28 _IMG_9169_1500x1000px

Karin Rehm und Martin Zentner von Schattenwald. Foto: Conny Geiger

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Virtuelle,

Herzlich willkommen in Stuttloch, dem neuen Loch im Herzen Europas!

Die ganze Welt blickt auf unsere schöne Stadt, die Maßstäbe in der Stadtenwicklung setzt und heute ein Magnet für Touristen aus aller Welt ist. Das Verdanken wir jenem Weltwunder, dass die Bürgerinnen dieser Stadt mit ihren eigenen Händen geschaffen haben:

Das Loch 21.

Doch wie ist es dazu gekommen, dass in Stuttloch das erste – und heute größte – Loch seiner Art entstanden ist? Dazu blicken wir ins letzte Jahrzehnt des vergangenen Millenium. Stuttgart, wie damals Stuttloch noch genannt wurde, hatte ein großes Problem. Dort, wo heute unser Loch gegraben wird, drängte sich einst die Stadt in einem Talkessel. Hunderttausende Bürger hausten in dichtbepackten Wohngebieten, freie Flächen gab es kaum noch. Damals gab es einen großen Bedarf an Büroleerstand und Einkaufszentren, für die jedoch kein Platz mehr da war. Also musste man alte Häuser abreißen. Doch das reichte nicht. Ein großes Gebiet der Stadt wurde damals von einem sogenannten Gleisfeld belegt. Im Zeitalter der Eisenbahn fuhren dort die Züge über ein Gewirr an Schienen in den Bahnhof ein, der inmitten des damaligen Stadtkerns lag. Die Herrscher von damals hatten seinerzeit die eigenartige Idee, den Bahnhof und die Gleise einfach zu vergraben. Damit sollte viel Land freigemacht werden, auf dem man noch mehr Einkaufszentren und Büroleerstand bauen wollte.

Es wurde 20 Jahre lang geplant und gestritten, doch Anfang der Zehnerjahre startete das Projekt. Doch der Plan ging nicht auf. Die Bauherrin, die damalige Eisenbahnbetreiberin Deutsche Bahn AG, hatte sich verplant. Details wie die geologische Beschaffenheit des Bodens, der Brandschutz oder die Finanzierung wurden übersehen. Das führte dazu, dass das Projekt nur zum kleinen Teil umgesetzt werden konnte. Das Ergebnis jahrelanger Bauarbeiten war eine mickrige mit Mineralwasser gefüllte Grube am Rande des Schiefen Turms von Stuttgart, dem damaligen Wahrzeichen der Stadt.

2013_09_28 _IMG_9178_1000x1500px

Foto: Conny Geiger

Der Übergangsbahnhof konnte – wenn überhaupt – nur noch an drei Tagen der Woche angefahren werden. Das führte dazu, dass Stuttgart im Jahre 2026 komplett aus dem Bahnnetz gestrichen wurde. Trotzdem wurde das Projekt weitergebaut, denn es mussten Verträge eingehalten werden. Erst als die Deutsche Bahn sich im Jahre 2031 auf Grund einer Fehlplanung kurzfristig selbst abgeschafft hatte, standen die Bagger still.

Das Projekt wurde offiziell für tot erklärt und Stuttgart hatte die größte Bauruine der Nordeuropäischen Union. Die Stadt stürzte in noch tieferes Chaos. Herrenlose Baumaschinen verstopften die Straßen und Horden arbeitsloser Bauarbeiter marodierten durch die Stadt. Ein neues Projekt musste her. Das Meisterbürgerkollektiv beschloss, einen sehr ungewöhnlichen Weg zu gehen: Die Bürger der Stadt sollten Ideen entwickeln und über die Zukunft der Stadt entscheiden. Am Ende eines langen Entscheidungsprozesses gab es einen klaren Favoriten: Loch 21.

2013_09_28 _IMG_9187_1000x1500px

Foto: Conny Geiger

Die Idee dazu hatte schon eine längere Geschichte: Im Jahre 2010, schon bevor der erste Spatenstich der Bahnhofsbegrabung stattgefunden hatte, gründete die damals noch nicht eingebürgerte Virtuelle Dora Asemwald die Initiative Loch 21, deren visionäres Ziel es war, in Stuttgart das größte Loch der Welt zu graben. Damals war die Welt jedoch nicht bereit, die Größe der Idee zu erkennen. Nur eine kleine Gruppe von Idealisten der Künstlergruppe Schattenwald um Karin Rehm und Martin Zentner trieb die Idee voran. Sie gründeten schon Ende der Zehnerjahre das damals noch wenig beachtete Lochologische Institut, welches Pionierarbeit auf dem Gebiet der Lochgrundlagenforschung leistete.  Als Anfang der dreißiger Jahre ein neues Konzept für die Stadt gesucht wurde, stellten sich die größten Koryphäen unter den Lochologen der Herausforderung, die Stadt der Zukunft zu ersinnen. Ihr Konzept konnte die Bürger der Stadt begeistern, am 28. September 2033 fand der erste Spatenstich statt. Loch 21 wurde geboren.

Um die Genialität ihres Plans zu verstehen, muss man in den Geist der Zeit eintauchen. Damals war der Großteil der Bürger noch materiell und mit der rapide voranschreitenden Virtualisierung der Gesellschaft überfordert. Da sie es noch nicht gewohnt waren, den Großteil ihres Lebens in digitalen Räumen zu verbringen, sehnten sie sich nach einem Ausgleich. Sie sehnten sich nach physischer Erfahrung. Für Sie war Loch 21 die Lösung ihrer Sorgen: Jeder Bürger wurde dazu aufgerufen, sich am Aushub des Loches zu beteiligen. Das Motto war einfach, aber griffig: Grab mit! Jeder packte seine Schaufel und gemeinsam legten sie los. Es dauerte nicht lange, bis aus einer brachliegenden Baugrube ein veritables Loch inmitten unserer Stadt entstand. Herausgefordert durch die Größe der Aufgabe erwachte die Bürgerschaft und entwickelte eine bislang ungeahnte Energie.  Die gemeinsame Aufgabe vereinte die Menschen und gab ihrem Leben einen Sinn in sinnlosen Zeiten. Das Loch wurde zum Nabel ihrer Welt.

2013_09_28 _IMG_9213_1000x1500px

Foto: Conny Geiger

Im Sommer badeten die Kinder im Mineralwasser in den Tiefen des Lochs, im Winter liefen sie auf den gefrorenen Flächen Schlittschuhe. Im Jahr 2038 wurde Stuttgart schließlich zu Ehren des Loches in Stuttloch umbenannt. So sehr beschäftigte das Loch die Stuttlocher, dass die 7. und 8. Finanzkrise unbemerkt an der Stadt vorüber ging. Auch die 10. Wiederwahl der seit 2018 verschollenen Kanzlerin rührte die Grabenden wenig. Immer mehr Leute aus allen Ländern der Welt kamen nach Stuttgart, um das Phänomen zu beobachten. Gepackt von der Lochleidenschaft blieben viele von ihnen hier und graben noch heute mit. Das Loch wurde immer tiefer und größer und füllte bald den ganzen Talkessel aus.

Darum zogen die Bewohner des Kessels in die umliegenden Gebiete. Dort fanden sie ihr neues Heim in den Büroleerstandsvorstädten und Stadtrandshoppingmalls, die mittlerweile abgeschrieben waren. Der Aushub wurde am Rande des Loches aufgetürmt. So wuchs der Monte Scherbelino, auf welchem schon die Ruinen des 2. Weltkrieges ihre Ruhe fanden, im selben Maße wie das Loch.

Schon bald erhob sich Stuttgarts Hausberg majestätisch über unser Loch, durch die olympischen Winterspiele 2046 erlangte er Weltruhm. Bis heute wird gegraben, bis heute wächst das Loch. Und es ist auch nicht abzusehen, wann das Loch ein Ende findet. Für uns Stuttlocher ist der Weg Ziel genug. So lange wir graben, sind wir! Das Projekt ist ein durchschlagender Erfolg. Wo einst eine gewöhnliche Stadt ihr Dasein in einem düsteren Kessel fristete, sehen wir heute ein veritables Weltwunder:

Loch 21, das größte Loch der Welt!

Layout2-Magistralenwanderkarte

Wanderkarte der „Magistralenwanderung“, Begleitbüro SOUP. Die Stationen entsprechen Bahnhöfen, die an der Bahnmagistrale Paris-Bratislava liegen.

Besetzt!

Norbert Prothmann führt in die Geschichte der Scheinanlage Brasilien ein.

Wie schon zuvor berichtet hat die Künstlergruppe SOUP eine Ausstellung zum Thema Scheinanlage im Stuttgarter Rathaus eröffnet. Schattenwäldlerin Karin Rehm ist als Mitglied von SOUP an der Ausstellung beteiligt.  Wir waren dabei und hatten Dora und Thea im Gepäck.

Thea und Dora: Passendes Outfit zur Ausstellung.

Rath.Stgt_Brasilien_2_12-vorne

Einladungskarte der Ausstellung

Da Schein und Sein ein durch und durch schattenwäldlerisches Thema ist, haben wir die Beiden in die Ausstellung integriert. Der geeignete Ort: Das zum Lochbahnhof umgekehrte Bahnhofsmodell, welches das historische Thema mit der aktuellen Bahnhofsthematik verknüpft und auf den Kopf stellt.

Ein Bahnhof steht Kopf

Ein umgedrehter Bahnhof, hier von innen betrachtet, wird zum Lochbahnhof.

Besetzt! Dora und Thea integriert in das Bahnhofsmodel

Somit wurden Thea und Dora zu Rathausbesetzerinnen, zumindest für die Dauer der Ausstellung.

Hier ein Erlebnisbericht von Thea:

Bei der Eröffnung der Ausstellung „Attrappen & Scheinbahnhöfe II – Den Kopf hinhalten für Stuttgart“ im Stuttgarter Rathaus kommt Dora und mir eine Idee: Occupy Rathaus! Damit sind wir nicht die ersten mit diesem Gedanken, aber vielleicht sind wir ja erfolgreicher als die anderen zuvor. Wir haben einen sehr findigen Platz für uns entdeckt: das auf dem Kopf stehende Modell des Stuttgarter Hauptbahnhofs von Harry Walter. Durch die Umkehrung wird nicht nur der Bahnhof unter die Erde gelegt, sondern auch noch zum Loch transformiert, das von einer Glasplatte abgedeckt wird. Der Platz zwischen Modell und Glas ist sehr eng – aber nicht zu eng, wenn man aus Papier ist wie wir. Unser Ziel: Über die Dauer der Ausstellung wollen wir nicht weichen!

Wenngleich uns zwei Wochen Lochwache nicht schockieren können, ist es doch eine verdammt lange Zeit, die wir zum Glück nicht alleine verbringen müssen. Zwei Freunde von uns, eine Bezirksbeirätin aus dem Stuttgarter Süden und ein tiefbahnhofkritischer Online-Aktivist nutzen jedes Zeitloch, das wir ihnen auf unserer Facebook-Seite schaffen, um uns während unserer Rathausbesetzung zu besuchen.

Nach der ersten durchzechten Nacht gibt’s pünktlich um 09:09 virtuellen Kaffee und auf meinen Wunsch ein Stück von Fred Frith und Iva Bittová zu hören. Besucher Frank bringt uns Pixelfood en masse. Am selben Abend lesen uns die Freunde bei flackerndem Kerzenlicht und leiser Musik aus Platons Politeia vor, in der er die Möglichkeit einer idealen Staatsordnung diskutiert. Am nächsten Abend singen sie uns Lullabies und erzählen uns die Geschichte von Orpheus und Eurydike. Nach antiker Vorstellung war es kein Trost, dass Orpheus sich als Schatten zum Schatten der Eurydike gesellen konnte. Uns jedoch schon, denn als Schatten fühlen wir uns in unserem Element.

Das Scheinanlagen-Outfit, welches wir uns extra für die Ausstellung nähen ließen, haben wir bald satt. „Wenn virtuelle Kleidung stinken könnte …“, lamentieren wir, und finden Gehör! Unsere Freundin Tine überrascht uns schon am nächsten Morgen mit schicken neuen Fummeln für die nächtlichen Partys auf der Dachterrasse. Gemeinsam mit Frank trägt sie dann abends unser Lieblingsstück „das Höhlengleichnis“ aus der Politeia  vor, in dem wieder Schatten eine Hauptrolle spielen. Was auch immer „wahr“ und „schön“ sei, so viel wird uns bei der Performance klar, es entsteht im Auge und Ohr des Betrachters!

Als erfahrener Blockierer weiß Frank, dass Nachtbesetzungen im Widerstand kaum Unterstützer finden: „Sie gehen alle mit dem Sandmännchen ins Bett!“. Er jedoch nicht, er steht uns tapfer zu jeder Stunde zur Seite. Wie zu erwarten läuft die Besetzung – genauer gesagt die Beliegung – des Bahnhofsmodells im Rathaus äußerst friedlich ab. Kaum einer nimmt Notiz von uns, außer den Ausstellungsbesuchern natürlich. „Papierpuppen sind zwar sehr leicht wegtragbar“, philosophieren wir, „aber sie verschwinden eben auch in den dünnsten Ritzen“.

Tagsüber fahren wir zum Rauchen mit dem Paternoster in den 4. Stock auf die Dachterrasse. Eines Abends treffen wir dort gegen 23:23 Uhr ein paar Facebook-Bekannte, die auf einige Drinks mit uns abstürzen. Einer redet sogar von Pressefotos, die wir natürlich gerne haben wollen. Wir posieren übermütig, Frank mixt uns immer neue Drinks und legt die für seine Ohren passende Musik dazu auf. Jedoch nicht für unsere Ohren, weshalb wir heftig protestieren. Auch gut, so kommen wir schon nicht aus der Protest-Übung. Wir einigen uns auf ein Lied der Punkband Slime und grölen „Legal, Illegal, Scheissegal“ vom Glockenturm in die dunkle Nacht. Der Herr vom Atelier Quadratmetertausch stößt dazu ins mitgebrachte Horn. Sein Instrument beherrscht er ebensowenig wie ein guter Punk.

Unseren Dienst als Lochwächterinnen unter der Glasdecke des umgedrehten Bahnhofsmodells  nehmen wir während der Ausstellungsöffnungszeiten sehr ernst. Es geht schließlich darum, die inneren Werte des Bahnhofs – sein uns heiliges Nichts – zu bewahren. Tagtäglich warten wir auf eine Reaktion der Politiker dieser Stadt, doch weder Wölfle, Schuster, Kuhn und dergleichen fühlen sich bemüßigt, auf unsere Besetzung zu reagieren. Weder SEK, Megaphon, Pressekonferenz noch Telefonate mit der Kanzlerin werden aufgefahren. Wer kommt, ist Herr Joly, der Leiter der Akademie Schloss Solitude, dem die Ausstellung wohl sehr gut gefällt. Doch aus protestlerischer Sicht bringt uns das auch nicht weiter. Wir müssen uns was anderes ausdenken.

Um die verschlafenen und herbstlich verschnupften Stuttgarter etwas aus der Reserve zu locken, heften wir in der letzten Woche der Ausstellung ein erstes Banner ans Rathaus. „Eine Katze ins Rathaus!“, ist darauf zu lesen. Angeregt vom Glockenspiel im Uhrenturm, das täglich um 11:06 Uhr, 12:06 Uhr, 14:36 Uhr und 18:36 Uhr aus 30 frei hängenden Glocken schwäbische Volkslieder spielt, fordere ich: „Öffentliche digitale Uhren, die zu Schnapszahlzeiten piepsen!“ Und politisch, wie wir nunmal sind, das wichtigste: „Wir sind FÜR Loch 21. Löcher muss man aushalten, dann werden sie zu einer saftigen Wiese der Muse. Grab mit!“ Die Bannerkritzeleien nehmen kein Ende, wir kommen vom Hundertsten ins Tausendste. Man hat ja nicht immer die Gelegenheit, sich etwas öffentlich wünschen zu können.

Damit wir in Ruhe die Banner an der Rathausfront befestigen können, schreibt Dora ein Ablenkungsschild: „Sitzungsgeld bitte im 1. Stock abholen!“. So können wir ohne aufzufallen unser Vorhaben umsetzen. Leider sind die Banner ebenso unauffällig. Dora sinniert: „Hach, der Widerstand, wo ist er denn, wenn man ihn braucht?“, als dürste sie nach einer starken Katze, die mal ordentlich durchgreift. Doch liegt das Problem eher an unseren allgemeinen Größenverhältnissen! Als Papierpuppen sind wir dann doch zu klein, um richtig aufzufallen. Wir sprechen noch über die Vor- und Nachteile vom Virtuellenwahlrecht, das es ja (noch) nicht gibt, und darüber, wer wir sind und wenn ja wie viele.

Unsere Besetzung endet damit, dass Steffen Bremer vom Begleitbüro SOUP uns am Abbautag einfach in die Tasche steckt.

 

Fotos: Schattenwald

Ein Loch für alle

Das größte Loch der Welt – nichts Geringeres will die Initiative Loch 21 in Stuttgart graben. Die Idee zu dieser Antwort auf das umstrittene Milliardenprojekt Stuttgart 21 entstand im Frühling 2010, als ein CDU-Abgeordneter forderte, man möge doch ein Loch am Bahnhof graben, damit alle sehen, dass Stuttgart 21 unumkehrbar sei. Loch 21 fordert zum Partizipieren auf: „Grab mit!“. Eine Gruppe auf Facebook wurde zum Sammelbecken für all jene, die dieser Aufforderung Folge leisteten: In einer gespielten Befragung konfrontierte zum Beispiel der Musiker und Fluegel TV-Moderator Putte fiktive Stuttgarter Bürger mit dem geplantem Loch. Er stellte auch einen Loch 21-Blues ins Netz. Das Fotografenduo Frank und Steff organisierte ein Casting zu „Stuttgarts next Lochmodel“. Sie fotografierten die grabenden Gewinner in Loch 21-Kleidung, die der Grafiker Martin Zentner für die Fans des Projekts entworfen hatte. Der Künstler Kurt Grunow durchlöcherte Asphalt und plante, wie man auf diese Weise größere Löcher in der Stadt ausheben könnte. Andere schickten Fotos oder Geschichten rund um Löcher aus aller Welt. Loch 21 wächst mit jedem, der sich an ihm beteiligt.

Um die Sache voranzutreiben, hat sich die Künstlergruppe Schattenwald des Themas angenommen. Neben der Lochgründerin Dora Asemwald und Martin Zentner gehört auch die Künstlerin und Kunsttherapeutin Karin Rehm zur Gruppe. Mit Loch 21 geht es ihnen darum, das Phänomen auch außerhalb des virtuellen Raums mit anderen zu teilen. Die Ausstellung „Grab mit! Dora und der Widerstand“ war ein erster Schritt dazu. Ihr Ort wurde mit Bedacht gewählt: „Unser Pavillon“ ist ein temporärer Bau im Mittleren Schlossgarten Stuttgarts. An dieser Stelle soll irgendwann die Baugrube für den neuen Tiefbahnhof entstehen. Als Informations- und Ausstellungsplattform der K21-Bewegung ist der von der Künstlergruppe Begleitbüro SOUP initiierte Pavillon nicht nur Anlaufstelle für Aktivisten und Künstler, sondern auch für interessierte Passanten. Damit schien er genau der richtige Ort zu sein, ein partizipatorisches Kunstprojekt zum Thema Stadtentwicklung durchzuführen.

Zentral für das Großprojekt Loch 21 ist der Lochplanungsprozess an sich. Dazu wollten die Künstler wissen, wo mit dem Graben angefangen werden soll. Eine auf Leichtschaumplatte aufgezogene Luftaufnahme des Stuttgarter Kessels wurde ausgehängt. Anbei die Aufforderung eine der durchnummerierten roten Markierfähnchen an jene Orte zu stecken, die nach Ansicht der Befragten durch das Graben eines Loches eine positive Entwicklung erfahren dürften. Anfangs traute sich noch keiner eine erste Fahne zu platzieren. Die Besucher fingen an auszuhandeln, wo und wie man wohl anfangen könnte. Eine Diskussion über die Stadt entbrannte und die ersten Fahnen wurden gesteckt: Das Rathaus und die Villa Reitzenstein waren erwartungsgemäß unter den ersten Zielen, die von „Wut-Lochplanern“ gewählt wurden. Neuer Sinn sollte einem Sportplatz verliehen werden, indem er ein großes Loch in seiner Mitte bekäme. Ein weiteres Loch könnte im Flussbett des Neckars gegraben werden, es würde dann von alleine vollaufen. Subversiv durchzuführende Löcher in Kellern von Mietshäusern und andere auf eigenem Grund und Boden wurden geplant. Ein Loch an Stelle der LBBW böte Platz für eine „Bad Bank“ und wäre ein Markt für Leerverkäufe. Eine tatsächliche Baugrube im Gerberviertel sollte einfach nicht wieder zugebaut werden, wünschte sich eine der Planerinnen, die keine Lust auf Shoppingmalls und leerstehende Neubauten hatte. „Löcher muss man aushalten können“, so kommentierte sie ins beiliegende Lochbuch.

Um Löcher richtig zu verstehen, muss man sie begreifen. Ein Lochworkshop am Modellgrabfeld sollte die Teilnehmer in Berührung mit der Materie bringen. Sie wurden dazu aufgefordert, in einer Holzkiste mit glattgestrichenem Ton ein Loch zu graben. Dabei sollten ihre insgeheimen Wünsche, Bedürfnisse und Impulse in die Lochplanung mit einfließen können. Die Besucher begegneten dem Aufruf, die glatte Oberfläche der weichen Tonerde zu verletzen mit gemischten Gefühlen. Während einige lustvoll in die Erde griffen, näherten sich andere – wenn überhaupt – nur zögerlich. Manche wollten lieber bauen als graben. Doch sie mussten feststellen, dass man nur schöpfen kann, wenn man an einer anderer Stelle etwas wegnimmt. Während bei der Planung die Stimmung noch unsicher und zum Teil ausgelassen war, wurden die Gespräche beim Modellgraben konzentrierter und gingen tiefer. Wer konkret zu handeln beginnt, wird sich des Aspekts der Arbeit dabei am eigenen Leib bewusst. Als Geste der Anerkennung für die erbrachte Leistung erhielt jeder eine kleine Trophäe, die ihn als partizipierenden Lochplaner ausweist. Der Ton wurde nach jedem Grabungsakt wieder glatt gestrichen, sodass der Nächste sein Loch verwirklichen konnte.

Seit dem Lochworkshop ziert eine in Stirnhöhe mehrfach abgehängte Affirmation den Ausstellungsraum. Sie zitiert die Fußballtrainerlegende Sepp Herberger: „Wer viel Spaß haben will im Spiel, muss die Sache ernst nehmen“.

Karin Rehm, Martin Zentner

www.loch21.de
www.galerie-dora-asemwald.de
www.unser-pavillon.de

Dieser Artikel erschien in der Publikation „Oberwelt Aktuell“, 33. Jahrgang, Ausgabe 4 vom 20. Dezember 2011